2 I Die vier Perspektiven der Wirklichkeit
Langsam geht Thomas die Treppen hinab Richtung Ausgang. Ganz erfüllt von dem Raum zwischen ihm und Anna. Er lächelt, schüttelt den Kopf. Trotz so vieler Jahre in der Beratung überraschen ihn solche Momente immer wieder aufs Neue. Wenn sich die Authentizität ihren Weg bahnt und nach oben getragen wird. Wenn Menschen diese Momente zulassen und er Teil davon sein darf. Wenn sich die Energie im Raum verschiebt und sich etwas verflüchtigt, das zuvor wie ein Käfig gewirkt hat. Und es gleichzeitig zu einer Veränderung kommt, die viel größer ist als das, was es von außen zu sein scheint. Etwas, das weit über die zwei Menschen in diesem Raum hinausgeht. Ein Tor sich öffnet. Zu einer neuen Art von Verbindung - aber auch zu einer neuen Art von Zukunft. Der Augenblick der Authentizität verändert den Weg, den wir gehen. Thomas spürt, wie sein ganzer Körper flattert vor Leichtigkeit. Von dieser Freude. Diese Momente der Vollkommenheit. Eines Tages schreibe ich ein Buch darüber, denkt er sich. Voller Momente, in denen wir als Menschen auftauchen in dem, was wir sind. Berührbare Wesen, wertvoller Teil dieses Planeten, so vollkommen und schön, wenn wir das beiseite legen, was wir glauben zu sein - oder sein zu müssen.
Er steuert das kleine, indische Restaurant ganz in der Nähe an. Der Verkehrslärm irritiert ihn kurz, zu laut ist die Geräuschkulisse, die sich mit der stillen, inneren Freude vermischt. Sie wird aber schnell zur Nebensache. Er muss daran denken, wie diese ganze Sache mit consumerra begonnen hatte. Ein Bekannter hatte ihn angeschrieben, der wiederum mit Olivia, der COO des Unternehmens befreundet war. Consumerra, ein relativ junges Start-up aus München, kämpft den Kampf, dem so viele begegnen. Ambitionierte Ideen, endlich ein großzügiger Investor, mit ihm Netzwerk, Expertise und große Wachstumspläne. Das alles hat dem Unternehmen gewaltig Rückenwind verschafft und die Skalierung in rasender Geschwindigkeit vorangetrieben. Voller Erfolgskurs, zahlreiche Neueinstellungen, der Umzug in wunderschöne Büros. München, Werksviertel, zwei ganze Stockwerke nur für consumerra. Riesige Räume, die trotz ihrer Größe eine moderne Gemütlichkeit ausstrahlen. Warmes, indirektes Licht und viel Holz, gepaart mit Grünpflanzen und einzelnen Farbtupfern in Form von Kissen und Sitzsäcken prägen das Bild. Das ganze wirkt wie ein riesiges Wohnzimmer, in das sich harmonisch kleine Gruppen von Arbeitsplätzen einfügen, die mit der neuesten Technik ausgestattet sind. Man sieht förmlich vor seinem inneren Auge, wie sich hier die Menschen auf Schreibtische und Sitzecken verteilen, entweder konzentriert für sich arbeiten oder im kreativen Austausch miteinander sind. Dazu eine tolle Dachterrasse, die von den ca. 80 Mitarbeitenden regelmäßig und gerne belagert wird und auch zukünftig als Treffpunkt für die weiteren 70 Mitarbeitende, die remote in Deutschland oder aus dem Ausland arbeiten, genutzt werden soll.
Eine rundum perfekte Erfolgsgeschichte – scheinbar. Denn es brodelt. Der vereinbarte Wachstumspfad mit dem Investor konnte über einen längeren Zeitraum nicht eingehalten werden. Das führte zu einem steigenden Druck, der sich vom Geldgeber auf das Unternehmen und das dazugehörige Management übertragen hatte. Und inzwischen in das gesamte Unternehmen sickert. Leise und schleichend die Leichtigkeit nimmt. Der durch Gemeinschaft und Leichtigkeit geprägten Kultur ganz langsam Handschellen anlegt, das Verhalten der Menschen verändert und die Strukturen in ein Druckmittel verwandelt, statt Motivation und Energie zu transportieren. Immer mehr Wachstumsschmerzen tauchten auf. Vermeintlich willkürlich und doch einem gewissen Muster folgend. Konflikte zwischen den Führungsrollen, Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung, fehlende Prozesse, eine gefühlte Entfremdung innerhalb der Organisation. Das Miteinander wurde immer mehr zu “die da oben” und “die da unten”. Die Sprache veränderte sich, auf einmal ging es um Ressourcen, Kapazitäten und Auslastung – statt um Menschen. Kontrollbedürfnisse entstanden, remote wurde in Frage gestellt, die Zielerreichung saß neben jeder einzelnen Person am Schreibtisch. Vertrauensarbeitszeit war mehr und mehr ein Thema, Selbstorganisation auf einmal ein ineffizientes Miteinander. Fehltage häufen sich, die Fluktuationszahlen stiegen. Arbeitsgruppen bildeten sich rund um Werte, Kultur und Ethk. Und in all dem eine müdes Führungsriege, die nach Lösungen suchte. Auf der Suche nach Hilfe erfolgte dann der Anruf an ihn, ein Treffen mit Olivia und schlussendlich der Kick-off Workshop.
Thomas muss wieder lächeln und den Kopf schütteln, als er im Restaurant Platz nimmt und sich für das Tagesgericht entscheidet. Es ist angenehm warm und duftet nach einer wilden Mischung an Gewürzen. Er hört seinen Magen knurren und bestellt sein Mittagessen, bevor seine Gedanken an den ersten gemeinsamen Workshop zurückkehren.
Thomas versinkt in die Erinnerung an diesen Januarmorgen. Es war das erste Mal, dass er das gesamte C-Level beisammen hatte. Die ernsthaft wirkende, junge Geschäftsführerin Anna, die trotz der sichtbaren Angespanntheit eine unfassbare Energie ausstrahlte. Der seniorige, groß gewachsene CFO Ulli, der wie der Fels in der Brandung wirkte. Die warmherzige Olivia, COO und enge Freundin und, genauso wie Ulli, lange und wichtige Weggefährtin von Anna. Und dazu Tom, der Organisationsentwickler des Unternehmens. Guter Typ, eigentlich ITler, der sich aber seit einigen Jahren mehr auf die Begleitung von Menschen und Organisationen fokussierte. Und Mia, Kulturbeauftragte von consumerra, Vertrauensperson und vermutlich diejenige, die am engsten an den Mitarbeitenden dran war.
Er selbst war zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile im Unternehmen unterwegs, um sich ein Bild der aktuellen Situation zu machen. Er hatte sich zahlreiche Unterlagen angeschaut, viele Gespräche geführt und seine ersten Erkenntnisse für den Termin damals mitgebracht. Er schmunzelte, als er an die Irritation dachte, als er explizit um einen Workshop gebeten hatte und nicht um einen Termin, in dem er seine Ergebnisse vorstellen wollte. Ihm war sehr bewusst, dass er die Menschen bei consumerra irritierte. Nicht nur durch seine Art der Fragen, auch durch sein Erscheinungsbild. Da war wenig Typisches aus der Start-up Szene an ihm. Keine hippe Brille, keine perfekt gestylten Haare oder Beanie, keine bewusst trashiges oder sportlich schickes Outfit und keine Sneaker. Stattdessen eher ein gemütliches Gesamterscheinungsbild, das zum Anlehnen einlädt.
Wie eng der Raum sich zu Beginn dieses Workshops angefühlt hatte. Meine Güte. Ihm war damals völlig klar, dass es auf jeden Fall den problemorientierten Ansatz braucht. Analyse der Fakten, kognitive Zusammenhänge, klare Lösungen. Der damalige Check-in zu Beginn hatte das auch nochmals bestätigt. Da war so viel Druck im Raum. Als dann auch noch Mia zu Beginn das Wort übernahm und von fehlender Entwicklung, fehlender Orientierung, fehlender Wertschätzung und zu hoher Arbeitslast der Mitarbeitenden berichtete, platzte Anna förmlich. Der Druck war nicht mehr auszuhalten. Die ganzen Maßnahmen der letzten Monate wurden förmlich ausgespuckt. Vision, Purpose, Werte, Strategie, Kommunikation – aus Anna’s Sicht hatten sie alles getan, um den Menschen Orientierung zu geben und es war ihr völlig unverständlich, wie das nicht landen konnte. Diese Härte aus der damaligen Runde hat nichts mit dem zu tun, was er heute erlebt hat. Dazu der schwelende Konflikt zwischen Ulli und Olivia rund um das Thema Selbstorganisation. Ulli, der genau dieser Arbeitsweise die Schuld für die mangelnde Orientierung und vor allem die schlechten Zahlen gab. Olivia, die in seiner “verstaubten” Haltung den Grund für die Fluktuation sah. Und dazwischen Tom, der relativ entspannt das ganze Geschehen beobachtete und den Vorschlag unterbreitete, internes Coaching für alle anzubieten, um den Menschen Raum für Veränderungsschmerzen zu geben. Das wiederum sorgte dafür, dass Ulli zur Salzsäule wurde und nur noch kaltes Schnauben von sich geben konnte. Luft zum Schneiden. Druck in seiner reinsten Form. Orientierungslosigkeit. Hilflosigkeit. Panik. Die sich natürlich hauptsächlich über Wut ausdrückte.
Also ging er den Weg, der in solchen Situationen immer für eine gewisse Entspannung sorgte. Er machte das Bild der vier Quadranten auf. Das AQAL Modell von Ken Wilber, angepasst auf seine Arbeit mit Organisationen. Das führt bei vielen Menschen nahezu sofort zu einem kognitiven Aha-Moment und meist auch zu einer Art Entlastung. Wenn die eigene Organisation oder das eigene Team auf einmal nicht mehr nur aus Problemen besteht. Wenn klar wird, wie komplex ein Unternehmen ist, wie unterschiedlich man auf eine Organisation blicken kann und in welcher Abhängigkeit die großen Themen wie Struktur und Kultur stehen. Und vor allem - wie gut es tut, wenn die Probleme der Organisation einen Platz finden und sich die Erkenntnis breit macht, dass der Grund für das bisherige Scheitern nicht persönliches Versagen war - sondern schlichtweg am falschen Punkt angesetzt wurde.
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IMPULS I THEORIE
DIE VIER QUADRANTEN ALS VIER PERSPEKTIVEN DER WIRKLICHKEIT
Abbildung 1: Vier Quadranten zur Betrachtung der Wirklichkeit (in Anlehnung an Ken Wilber & imu Augsburg)
Die vier Quadranten, auf welche ich mich hier beziehe, finden ihren Ursprung im AQAL Modell von Ken Wilber, welches er im Rahmen seiner Integralen Theorie entwickelt hat. Dieses Modell wurde für die Arbeit in der Organisationsgestaltung angepasst, indem die Bezeichnungen der einzelnen Quadranten in die Sprache der Arbeit mit Teams und Organisationen übersetzt wurden. Diese Anpassung geht auf die imu Augsburg zurück, die wiederum die vier Quadranten sowohl in der praktischen Arbeit der integralen Organisationsentwicklung, als auch in ihren Ausbildungen zugrunde legt.
Die vier Quadranten dienen insbesondere dafür, ein ganzheitliches und differenziertes Bild der systemischen Wirklichkeit zu ermöglichen, um so Probleme und Ursachen zu differenzieren oder Transformationen nachhaltig und gesund zu gestalten. Das Modell beinhaltet vier Perspektiven, die sowohl das Individuum, als auch das Kollektiv umfassen, wie auch das nicht-sichtbare Innen und das sichtbare Außen.
Der am einfachsten zugängliche Quadrant ist sicherlich der des WIR/AUSSEN unten rechts. Auf Organisationen bezogen finden sich hier Elemente wie Strukturen, Prozesse, Ziele oder Produkte und Dienstleistungen wieder. Auch das klassische Organigramm, sei es hierarchisch oder das einer Kreisorganisation, lässt sich hier verorten. Die meisten Transformationen von Unternehmen setzen hier an. In Form von neuen Strategien, Restrukturierung, Neudefinition von Rollen, Überarbeitung von Meetingformaten oder Wechsel von Führungskräften. Jede Reise in die Agilität beginnt in diesem Quadranten - bleibt aber auch meist dort, was schlussendlich zu einem Scheitern der Transformation führt.
Der zweite sichtbare Quadrant ist der ICH/AUSSEN Quadrant, oben rechts. Hier finden wir die Kompetenzen, das Verhalten und Wissen, bezogen auf die einzelnen Mitarbeitenden oder Führungsrollen. Kommunikationsverhalten, Führungsverhalten, Entscheidungsverhalten oder auch auch der immer beliebter werdende Begriff der Wirksamkeit im Sinne von “welches Verhalten führt zu einer empfundenen Wirksamkeit für die einzelne Person”, ist hier anzusiedeln. Einige Unternehmen werden auf diesem Quadranten im zweiten Schritt einer Transformation aktiv. Mitarbeitende werden für den Einsatz des agilen Frameworks trainiert oder bekommen Weiterbildungsmaßnahmen für unternehmensrelevante Kompetenzen. Führungsrollen erhalten Trainings für Servant Leadership oder stärkenbasierte Führung.
Weniger beachtet (wenn auch oft diskutiert) sind die inneren Quadranten. Häufig wird zwar über “das richtige Mindset” oder die “gewünschte Unternehmenskultur" gesprochen, so richtig greifbar sind dann aber weder die Themen, noch die einzelnen Maßnahmen dazu.
Im WIR/INNEN Quadranten unten links geht es um die berühmte Kultur eines Unternehmens, die Werte der Organisation und die Beziehung der Menschen zueinander. Dabei sind die Werte wohl das beliebteste Element aus diesem Quadranten, die im Rahmen einer Transformation gerne neu definiert und kommuniziert werden. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass alle Elemente in diesem Quadranten von innen heraus entstehen und nicht “gemacht” werden. Die Menschen als Kollektiv und das System als solches bringt all das hervor, was in diesem Quadranten verortet werden kann. Heißt übersetzt, dass bspw. häufig das gelebte und gefühlte Wertekonstrukt einer Organisation nicht mit dem übereinstimmt, was auf den Werte-Tafeln auf den Fluren steht. Das eine entsteht, das andere wird bestimmt. Das eine wird gelebt, das andere steht geschrieben. Dazu sind in diesem Quadranten aber noch weitere wichtige Elemente zu finden, wie beispielsweise das Wandlungsvermögen, die Lern- und Fehlerkultur, die Beziehung zwischen Unternehmen und Stakeholdern oder die Orientierungsgröße (z.B. Qualität vs Erfolg vs. ethische Verantwortung). Elemente, die in den meisten Veränderungsprozessen oft vernachlässigt werden, weil entweder nicht bewusst oder schwer greifbar.
Der letzte Quadrant ICH/INNEN oben links widmet sich dem inneren Zustand der Einzelnen und ist damit auch derjenige, der die meisten Berührungsängste auslöst. Hier geht es vor allem um Haltung, Gedanken, Gefühle und Körperwahrnehmung der individuellen Menschen als Teil der Organisation. Was motiviert mich? Wovor habe ich Angst? Wie blicke ich auf die Welt? Wie stehe ich mit mir selbst in Kontakt? Das sind Fragen, derer sich in diesem Quadranten angenommen wird. Zugegebenermaßen eine nicht ganz einfache Angelegenheit, weil sie im Inneren des Menschen verankert und daher nicht sichtbar und oft entweder nicht bewusst oder gut geschützt sind. Daher findet dieser Quadrant in den meisten Transformationen gar keinen Platz (außer in der berühmten Diskussion um das “richtige Mindset”), meist mit schwerwiegenden Konsequenzen für den Erfolg des Prozesses.
So einfach und hilfreich das Modell auf den ersten Blick wirkt, so sensibel ist es in der Anwendung. Drei Grundsätze sind hierbei zu beachten.
1. Alle Quadranten können zwar im Einzelnen beschrieben und betrachtet werden, sie stehen jedoch immer in einem unmittelbaren Zusammenhang zueinander. Soll heißen, dass eine Veränderung in einem Quadranten zwangsläufig eine Veränderung auf allen anderen Quadranten mit sich bringen sollte. Wenn also ein Unternehmen beschließt agil zu werden, dann ist es nicht mit Training, Umstrukturierung und neuen Rollen getan. Es braucht einen präzisen Blick auf Innen und Außen, das Individuum und das Kollektiv, um entsprechende Maßnahmen über alle Quadranten hinweg einzuleiten. Ansonsten scheitert der Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit an der Schieflage, die über die Quadranten hinweg entsteht.
2. Problem und Ursache sind meist nicht auf dem gleichen Quadranten zu finden. Deswegen ist sehr viel Präzision gefragt bei der Gestaltung von Maßnahmen zur Bearbeitung eines Problems in der Organisation. Denn die Lösung muss im Quadranten der Ursache ansetzen. Nehmen wir das Thema Geschwindigkeit. Das Unternehmen möchte seine Time-to-market Zeit erhöhen und entscheidet sich deshalb für agilere Strukturen und Prozesse. Sonst wird nichts angefasst. Und das Ergebnis ist eine sinkende Performance. Warum? Weil die Urscahe vielleicht gar nicht in den Strukturen und Prozessen zu finden ist. Sondern vielleicht daran, dass den beteiligten Mitarbeitenden Wissen fehlt (ICH/AUSSEN) oder sie mit der neuen “Freiheit der Agilität” überfordert sind, weil sie sich ihre Motivation daraus ziehen, prozesskonform zu handeln (ICH/INNEN). Ursachenforschung ist also der Kern einer jeder Transformation. Und Agilität nicht immer die Lösung für mehr Geschwindigkeit.
3. Die vier Quadranten sind ein vereinfachendes Modell, welches versucht, sich der Wirklichkeit möglichst präzise zu nähern. Es wird aber niemals die Komplexität der Wirklichkeit bis ins Detail abbilden können. Dafür sind Menschen und Systeme zu sehr verwoben und die dadurch entstehenden Wechselwirkungen lassen die Grenzen häufig verschwimmen. Daher sollte es als das genutzt werden, was es ist. Eine Vereinfachung der Wirklichkeit, die es ermöglicht, ganzheitliche Transformationen zu gestalten und Problemursachen wirksam zu beheben.
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Nachdem er den theoretischen Impuls, angereichert um ein paar Beispiele aus der aktuellen Realität von consumerra, abgeschlossen hatte, merkte er schon, wie sich die Energie im Raum verschob. Als ob sich Rucksäcke entleeren würden. Den größten Aha Moment hatte sicherlich Tom, der sofort die Quadranten mit seinen Erfahrungen in der Arbeit mit der Organisation und den Teams übereinander legte und zum ersten Mal wie eine Berechtigung in dem fand, was er für so relevant hielt. Nämlich die bewusste Begleitung von Menschen, um Strukturen zum Leben zu erwecken. Statt Performanceprobleme mit einer ständigen Strukturveränderung lösen zu wollen. Aber auch die anderen konnten sich schnell in das Modell eindenken, es wurden viele Fragen gestellt und Themen aus der aktuellen Situation des Unternehmens diskutiert. Um dem einen besseren Raum zu geben, schloss er noch eine praktische Übung an, die, wie so häufig, den Blick der Menschen ein Stück weit verschob - und aus persönlichen Gegeneinander auf einmal ein professionelles Miteinander machte. Mit Klebeband und Post-its befestigte er die vier Quadranten in Übergröße auf dem Boden und bat die Gruppe langsam über die Quadranten zu gehen. Immer mal wieder stehen zu bleiben und in sich reinzuhören, ob sich das Gefühl innerhalb der Quadranten unterschied. Wo sie sich wohl fühlten und wo nicht so.
Schließlich verschob er den Fokus wieder auf die Organisation und stellte die Frage, wo denn in den letzten Monaten die miesten Aktivitäten im Unternehmen passiert seien. Nach einigem Hin und Her stellten sich alle Teilnehmenden in den WIR / AUSSEN Quadranten. Das passierte häufig, weil es nunmal die Realität der meisten Organisationen widerspiegelt. Trotzdem hat es immer wieder seine ganz eigene Wirkung, wenn auf einmal klar wird, dass drei wichtige Quadranten bisher kaum bespielt wurden. Das darauffolgende Gespräch war dann doch mit einer harten aber angenehmen Klarheit geführt worden. Auf seine Frage, ob jemand etwas sagen wolle, entstand ein lebhafte Diskussion, die in etwa so ablief:
“Ich finde das gar nicht so einfach”, brach Olivia das anfängliche Schweigen. “Maßnahmen sind ja immer darauf angelegt, sichtbar zu sein. Das liegt doch in der Natur der Sache. Daher landen wir unweigerlich bei den äußeren Quadranten. Ich habe mich aber bewusst in Richtung Kultur gestellt, weil wir mit der Formulierung der Werte und der offenen Gestaltung der Büroräume mit Community Areas schon viel für die Kultur und die Beziehungen gemacht haben.”
“Aber das sind doch trotzdem lauter Maßnahmen im Außen”, platzte es aus Tom heraus, der sich sichtlich unwohl mit der ganzen Aufmerksamkeit fühlte, die seine Aussage erzeugte.
“Thomas hat vorhin gesagt, dass sich dieser WIR / INNEN Quadrant immer aus den Menschen heraus gestaltet. Das heißt für mich, dass Maßnahmen hier nur begrenzt wirksam sind und die Menschen die Kultur des Unternehmens gestalten. Natürlich haben wir Werte formuliert und versucht, eine offene Kommunikationskultur über Büroräume zu etablieren. Aber wirken kann das doch nur, wenn die Menschen das auch annehmen und gestalten bzw sich mit den Werten identifizieren und sie dann in ihren Alltag integrieren. Und das sehe ich bei uns nicht. Die meisten haben gar keine Zeit für den Austausch in den Community Areas, sitzen den ganzen Tag mit Kopfhörern am Schreibtisch, klicken sich von Meeting zu Meeting und versuchen der Arbeitslast irgendwie gerecht zu werden. Teilweise trauen sie sich nicht mal mehr einen Kaffee zu machen, vor lauter Diskussionen um Effizienz und Kapazitäten, die wir die letzten Monate geführt haben. Mit Gemeinschaft als einem unserer Kernwerte hat das wenig zu tun. Für mich sind alle Maßnahmen, die wir zur Kultur- und Beziehungsgestaltung umgesetzt haben, im AUßEN verortet und total getrennt von der Wirklichkeit.”
“Aber ist es nicht völlig logisch, dass die meisten Maßnahmen hier passieren, wo wir stehen?”, fährt Anna fort. “Ich meine, wir haben die Verantwortung für das Unternehmen, das ist ein kollektives System. Und wenn wir dafür sorgen wollen, dass dieses kollektive System funktioniert, müssen wir Maßnahmen für das Kollektiv entwickeln und nicht Einzelbeatmung. Da werden wir ja sonst nie fertig. Und wie soll das überhaupt aussehen? Jedem einzelnen das Händchen halten oder was? Dafür haben wir verdammt nochmal keine Zeit. Und wenn sich Kultur und Beziehungen sowieso selbst gestalten, dann hab’ ich doch gar keine andere Option als in Strukturen und Prozesse zu investieren bzw das Unternehmen an gemeinsamen Zielen auszurichten. Wenn ich meinem Investor erzähle, ich investiere jetzt Geld in Maßnahmen zur Haltungsveränderung oder die Gefühlswelt unserer Leute, dann lacht der mich aus.”
“Aber jedes System ist doch die Summe seiner Einzelteile”, fällt Mia Anna ins Wort. “Und ich kann doch nicht einfach ignorieren, was bei den Einzelnen passiert. Ob sie sich wohl fühlen bei uns oder nicht. Ob sie ihr Wissen einsetzen können oder nicht. Ob sie motiviert sind oder nicht. Ich habe keine Ahnung, wie Maßnahmen aussehen könnten, die unternehmerisch sinnvoll sind und gleichzeitig den Einzelnen gut tun bzw auf sowas wie Haltung oder Denken oder Fühlen einzahlen. Zumal das ja offensichtlich nicht sichtbare Elemente sind. Ich merke jedoch in meinen Gesprächen, dass es das braucht,” beendete Mia ihre Ausführungen.
“Ach so ein Quatsch,” schimpfte Ulli los. “Wir haben eine unternehmerische Verantwortung und eine Reportingpflicht an unseren Investor. Wir haben zu liefern. Punkt. Das, was da als Zahl unter dem Strich steht, ist das, was zählt. Wenn wir nicht wieder auf Kurs kommen, dreht er uns den Geldhahn zu. Ganz einfach. Und wenn wir keine Gelder bekommen, ist es egal, wie es den Leuten geht. Dann hat keiner mehr einen Job. Wir brauchen klare Ziele, klare Strukturen, effektive Prozesse und Menschen, die die Prozesse bespielen. Deswegen stehe ich hier im WIR/AUSSEN. Es ist das einzig Sinnvolle, was wir tun können, um den Laden hier am Laufen zu halten. Effizienz und Performance, das ist das was jetzt zählt.
“Ich sage ja auch nicht, dass wir das alles nicht brauchen, Ulli", springt Mia wieder rein. “Aber wir können dabei nicht ignorieren, dass wir es hier mit etwa 150 Menschen zu tun haben, und nicht 150 Maschinen, bei denen du einfach nur den On- und Off-Knopf drückst. Und die sind alle mit ihren individuellen Themen hier, ihren Wünschen, ihren Ansprüchen und Emotionen. Und es macht halt einen Unterschied, ob wir 150 motivierte Mitarbeiter:innen haben oder 150 demotivierte. Oder noch schlimmer, wenn du hier 150 Menschen sitzen hast, die Angst haben, überfordert sind und nicht mehr schlafen können. Und dir dann davonlaufen. Schwupps sind sie weg deine Ressourcen. Und dann? Hast du mal ausgerechnet, was so eine Kündigung kostet? Das ist doch viel zu kurz gedacht! Und das merkst dann ganz schnell in den Zahlen.”
Schlussendlich war sich die Gruppe zwar zu diesem Zeitpunkt nicht einig geworden, wie sinnvolle Maßnahmen aussehen könnten. Das war aber auch gar nicht das Ziel der Übung. Vielmehr ging es darum, bewusst zu machen, wo sie als Unternehmen gerade agierten und was nicht behandelt wurde. Und ein Gespräch zu ermöglichen, das sich mit einer gemeinsamen Sprache und einem ganzheitlichen Blick auf die Organisation mit der aktuellen Situation auseinandersetze. Die Probleme und Herausforderungen waren immer noch dieselben. Aber die Art und Weise, wie darüber gesprochen wurde, hatte sich verändert. Auf einmal wurde klar, dass Strukturen und Prozesse allein die Probleme nicht lösen würden. Dass es zwar um den Business Case, die Performance und auch Effizienz ging - aber vielleicht nicht unbedingt die nächste Umstrukturierung das Problem lösen würde. Ein Prozess hatte begonnen. Der zwar nicht sofort eine Lösung bereit hielt. Aber auf einer sehr klaren und immer wieder verwendbaren Methode beruhte und auf einer gemeinsamen Sprache bzw. einem gemeinsamen Verständnis beruhte.
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IMPULS I PRAXIS*:
AUFSTELLUNG IN DEN VIER QUADRANTEN
Material: Klebeband, Post-its groß, Stifte
Zeitaufwand:
30- 60 Minuten
abhängig von Gruppengröße & Anzahl Fragestellungen
Durchführung:
vier Quadranten auf den Boden kleben und mit Post-its beschriften
Teilnehmende langsam über die Quadranten gehen lassen
bewusst auffordern, immer wieder stehenzubleiben und wahrzunehmen, wie sie sich fühlen
Mögliche Fragestellungen:
in welchem Quadranten fühlst du dich persönlich am wohlsten?
in welchem Quadranten erlebst du im Unternehmen die meiste Aktivität?
in welchem Quadranten erlebst du deine meiste Aktivität?
Mögliche Reflexionsfragen:
warum stehst du da, wo du stehst?
weshalb hast du dich dort verortet
weshalb hast du dich nicht in einem anderen Quadranten verortet?
wie geht es dir damit?
welche Erkenntnis nimmst du mit?
(*basierend auf der Arbeit / Ausbildung der imu Augsburg)
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Im weiteren Verlauf waren sie als Gruppe immer weiter in die vier Quadranten eingetaucht. Hatten über Probleme und Maßnahmen diskutiert, die Prinzipien der Arbeit mit Modell besprochen und die Komplexität und teilweise auch Ungreifbarkeit der inneren Quadranten angerissen. Schlussendlich stand die sehr klare Erkenntnis im Raum, dass die bisherigen Maßnahmen von consumerra zwar nicht falsch waren, jedoch unvollständig. Und, dass, wie bei so vielen Unternehmen, die Arbeit an äußeren Themen wie Strukturen, Ziele, Prozesse, Kommunikation und Training nicht zum gewünschten Erfolg führten, sondern fast noch zu einer Verschlimmerung der Situation beigetragen hatte. Weil die dazugehörige Arbeit im Innen gefehlt hatte. Kein einfacher Moment für die Gruppe, insbesondere, als er an bestimmten Stellen die Parallelen zu Großkonzernen wie der Automobilindustrie zog, was Anna schwer aushalten konnte. Da kam schon das erste Mal ein zartes Pflänzchen von dem zutage, was sich dann heute zeigen sollte.
Thomas leert sein Glas und betrachtet gedankenverloren seinen leeren Teller. Wie viele Gründer:innen und Führungsrollen er schon erlebt hat, die aus dieser engen, drucküberladenen Energie nicht raus konnten. Die zermahlen wurden zwischen den Erwartungen der Investoren, den Zielen des Unternehmens, den Bedürfnissen der Mitarbeitenden und den eigenen, inneren Werten. Werte, die so lange unterdrückt wurden, bis sie einfach völlig verschwanden, weil sie im Führungsalltag einfach keinen Platz fanden. Wie wunderbare Gründungsvorhaben unter die Räder des Wachstumszwangs kamen oder Sozialunternehmer:innen unter die Räder der Abhängigkeit von Spenden. Wie Menschen zu Maschinen wurden, die nur noch funktionierten. Nichts mehr spürten außer Druck, Angst und Panik. Ausgedrückt über Wut, Konflikt oder Schweigen. Sich darin selbst immer fremder wurden, als leere Hüllen am Abendbrottisch saßen und sich morgens kaum noch aufraffen konnten, das Haus zu verlassen.
Und wie schön es heute war, wieder miterleben zu dürfen, dass ein Mensch trotz oder wegen des schier unaushaltbaren Drucks eine Tür aufgemacht hatte. Zugelassen hatte, dass das eigene Ich wieder auftauchen durfte. Auch wenn dadurch Tränen fließen und sich der Körper anfühlt wie ein brodelnder Kochtopf – es führt dazu, dass sich die Wahrnehmung verschiebt. Dass da noch mehr ist, dass es um etwas anderes geht, als irgendwie den Alltag zu überstehen. Dass es mal eine Vision gab, Energie, Begeisterung. Dem wieder Raum zu geben ist ein mutiger Schritt und ein großes Geschenk. Und Thomas ist überzeugt davon, dass Anna heute mit einem ganz anderen Gefühl durch den restlichen Tag geht. Leichter. Energiegeladener. Mehr sie selbst und weniger eine feuerlöschende, harte Rolle, die versucht durch Druck den Untergang abzuwenden.