Eins / Anna
Etwas verloren steht Anna als Letzte im Raum. Langsam setzt sie sich auf den nächstgelegenen Stuhl. Sie ist innerlich so aufgewühlt, dass schon die kleinste Bewegung zu viel Energie kostet. Sie merkt, wie ihr Handy vibriert, kann aber unmöglich rangehen.
Erst jetzt merkt sie, dass ihr Tränen die Wangen hinunterlaufen. Wo kommt das denn jetzt her? Schnell wischt sie sich über das Gesicht. Eine heulende Geschäftsführerin im Meetingraum, das geht einfach nicht! Aber es kommen immer neue nach und sie kann einfach nichts dagegen tun. Innerlich tobt fast schon ein Kampf, den sie gar nicht einordnen kann. Sie hat das Bedürfnis wegzulaufen und trotzdem bleibt sie sitzen. Waren die letzten Monate einfach zu viel? Der Druck, dem sie aktuell ausgesetzt sind, die steigenden Fluktuationszahlen, die Hilflosigkeit, die sie manchmal empfindet, wenn sie den ganzen Tag nur von Meeting zu Meeting rennt, um einzelne Feuer zu löschen. So hatte sie sich das Unternehmertum nicht vorgestellt, als sie damals consumerra gegründet hatte. Aber sie war auch nicht so naiv gewesen zu glauben, dass das ein einziger Flow werden würde. Nein, eigentlich war sie sich damals bewusst gewesen, dass es Täler geben würde. Und dass sie die Stärke besitzen würde, mit ihnen umzugehen.
Aber was war es dann? Weshalb die Tränen? Weshalb so aufgewühlt und gleichzeitig so erstarrt?
Sie nimmt eine Bewegung wahr und sieht auf einmal Thomas ihr gegenüber Platz nehmen. Sie wartet auf das typische Unwohlsein, das sie empfindet, wenn Menschen sie in solchen Momenten erwischen. Aber es bleibt seltsamerweise aus. Gemeinsam sitzen sie schweigend auf ihren Stühlen, während Annas Tränen weiter und weiter laufen und langsam auf ihre Hose tropfen.
Und auf einmal sprudelt es aus Anna heraus, ohne dass sie etwas dagegen machen kann. Sie erzählt Thomas, wie sie damals nach dem Studium eine Auszeit genommen hatte und nach Südostasien reiste. Sie wollte diese fernen, unbekannten Kulturen kennenlernen, traumhafte Strände sehen und unberührte Natur erleben. Sie fand all das, was sie sich erhoffte zu finden - und leider noch viel mehr. Neben Traumstränden, Dschungel, Vulkanen und unfassbar freundlichen Menschen, prägten endlose Palmölplantagen in Malaysia, sich türmende Müllberge auf Bali, tote Korallenriffe vor den Philippinen, Smog und Beton in Bangkok und Armut wie selbstverständliche jeden Teil des Bildes. So viel Schönheit gepaart mit so viel Zerstörung. In Europa war ihr das nie so bewusst geworden wie auf dieser Reise. Und sie kam zurück mit dem Vorhaben, das Thema Konsum nachhaltiger zu gestalten. So entstand die Idee von consumerra. Ein Ort, an dem all die nachhaltigen Produkte zusammengeführt und für Kunden aus aller Welt einfach zugänglich gemacht werden sollten. Sie erzählte von den vielen kurzen Nächten, um die Investoren Pitches vorzubereiten. Den vielen Enttäuschungen und von dem einen, den sie schließlich mit wesentlich mehr zugesagten Finanzmitteln abgeschlossen hatte, als erhofft. Wie sie Michael und Olivia gefunden hatte, dem gemeinsamen, rasanten Wachstumspfad über die ersten Jahre und dem Moment, als sie in die eigenen Büros in München gezogen waren. Den vielen gemeinsamen Feiern auf der Dachterrasse mit Blick über die Stadt. Dann die steigende Komplexität im Kontext Produkt, aber auch mit der wachsenden Organisation, kombiniert mit den immer herausfordernden Anforderungen des Investors. Wie sie von der energiegeladenen Gestalterin immer mehr zur Feuerwehrfrau wurde, wie langsam die Zahlen schlechter wurden, das rasante Wachstum stagnierte und sie trotz immer mehr Zeitaufwand immer weniger Probleme lösen konnte. Und die aktuelle Frage, ob all das der Grund dafür sein könnte, wie es ihr gerade ging.
Thomas sitzt die ganze Zeit still da und hört mit warmer Aufmerksamkeit zu. Anna merkt, wie sich langsam etwas in ihr entspannt. Noch nie hatte sie so offen über all das berichtet, was mal als Herzensprojekt gestartet war und ihr nun immer öfter den Schlaf raubte. Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, so gesehen und trotzdem nicht verurteilt zu werden. Als ob dieser Mensch ihr gegenüber nur dazu da wäre, ihren ganzen Rucksack für ein paar Momente zu tragen, damit sie sich etwas ausruhen konnte.
Sie nimmt wahr, dass Thomas etwas gesagt hat und schaut ihn fragend an.
“Ganz schön beeindruckende Geschichte, muss ich sagen.” wiederholt Thomas und nickt anerkennend.
“Und gleichzeitig sehe ich deine Tränen und höre deine Frage, woher sie kommen, bzw ob sie wohl von der aktuellen Situation ausgelöst werden. Allein diese Frage sagt ja schon, dass das wohl nicht die Antwort ist.” Anna schweigt. Denn er hat recht. Sie sind da und ihr Kopf will sie den aktuellen Problemen zuordnen, aber irgendwas passt da nicht.
“Vielleicht magst du mir noch etwas mehr über dich gerade erzählen? Du hast gesagt, dein Innenleben sei aufgewühlt und gleichzeitig fühle sich dein Körper total erstarrt an. Das interessiert mich.”
Anna schaut Thomas irritiert an. Keine Fragen zu den aktuellen Problemen? Keine Fragen zu ihrem Schlaf? Kein hinterfragen, ob sie die aktuelle Situation vielleicht überfordere? Sie atmet langsam aus.
“Innen drin fühlt es sich an wie ein brodelnder Kochtopf. Alles durcheinander, ich bekomm’ da nichts zu fassen. Ich will das unbedingt sortieren und verstehen, aber ich komm’ gar nicht an die Sachen ran, dann sind sie schon wieder weg. Wie als ob es alle Energie da reinzieht in diesen Kochtopf. Und dann ist keine mehr da, um mich zu bewegen.” Schon wieder beginnen die Tränen zu laufen.
“Ich fühl’ mich so - falsch”, spricht Anna weiter. So, als ob ich am falschen Ort bin. Als ob consumerra der falsche Ort wäre. Aber ich hab’ consumerra doch gegründet. Ich wollte immer genau das sein, Gründerin und Unternehmerin. Und wenn ich das so ausspreche, dann fühlt sich das gar nicht so falsch an, ich will das immer noch sein. Gründerin und Unternehmerin. Aber consumerra fühlt sich so falsch an. Oder ich in consumerra? Ach, ich weiß auch nicht.” Anna schüttelt den Kopf und ihre Augen füllen sich schon wieder mit Tränen.
“Diese Tränen, Anna,” hört sie Thomas sagen, “kannst du mir sagen, von welchem Platz sie kommen? Hat das etwas mit diesem Gefühl zu tun, dass irgendetwas falsch ist?”
“Ich bin traurig.” Anna ist selbst überrascht über die Aussage. “Traurig über was?” hakt Thomas nach. “Traurig, dass sich consumerra so anfühlt für mich. Und nicht mehr so, wie es sich angefühlt hat, als ich gegründet habe,” antwortet Anna. “Als ich vorhin im Workshop von meiner Vision erzählt habe, von dieser Größe, da hat sich das so anders angefühlt. So leicht und so - großartig. Da war auf einmal wieder diese Energie von damals, dieser Drang, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Was wirklich Großes bewegen zu wollen. Ich habe mich stark gefühlt, mutig und irgendwie relevant. Und jetzt fühle ich mich nur noch klein und gestresst und - traurig. Ich bin traurig, weil nichts mehr sich bei consumerra so anfühlt wie damals.” Anna schweigt betroffen über diese Erkenntnis. Thomas nickt langsam.
“Möchtest du denn, dass es sich wieder so anfühlt?” fragt er behutsam.
“Ja natürlich - und gleichzeitig frage ich mich, ob das vielleicht einfach normal ist. Dass dieser Anfangshype sich legt und von der Realität erdrückt wird. Ob deshalb so viele Gründer dann verkaufen wollen oder raus wollen, um wieder neu zu gründen. Weil es einfach der natürliche Lauf der Dinge ist. Vielleicht ist das die Realität aller CEO’s? Dieser ständige Druck, diese Hetzerei, dieser Stress und dieses ständige Gefühl am falschen Platz zu sein.”
“Ich erlebe durchaus sehr viele Menschen, die mir von ähnlichen Situationen berichten,” antwortet Thomas. “Das sind aber nicht nur CEO’s, das sind Menschen aus ganz unterschiedlichen Organisationen mit ganz unterschiedlichen Rollen. Ich würde es also eher als allgemeines, gesellschaftliches Phänomen beschreiben. Verbunden mit dem Wunsch nach etwas anderem, was dem sehr nahe kommt, was du mir über deine Gründungszeit und deine Vision erzählst Anna. Was ich damit sagen möchte - du bist nicht allein. Und es hat nichts mit deiner Rolle als CEO zu tun. Mir stellt sich eher die Frage, was wir tun können, damit du dich wieder so fühlst wie damals, als du consumerra gegründet hast.”
"Und hast du eine Idee, wie das funktionieren kann?” Anna blickt fragend in Thomas Richtung. "Ich bin da nämlich völlig lost.”
“Wir können gerne versuchen, das herauszufinden”, antwortet er. “Eure Beauftragung beinhaltet ja auch Coachingsessions, heißt, wir haben hier alle Möglichkeiten. Wenn du das willst.” Anna nickt. “Auf jeden Fall! Das hat sich heute so gut angefühlt, dieser Flashback in die Zeit damals. Ich möchte so gerne wieder mit dieser Energie in und für consumerra wirken. Herausfinden, was passiert ist, mit mir und dem Unternehmen, dass es sich heute nicht mehr so anfühlt!”
“Ok”, antwortet Thomas, “dann lass uns versuchen, alle 1-2 Wochen für eine Coaching Session zu treffen.” Anna nickt.
Eine Sache ist mir aber noch wichtig zu sagen”, fährt Thomas fort. “Ich vermute, dass das, was du dir wünschst, unmittelbar mit consumerra zusammenhängt, Anna. Für mich liegt diese Gefühl “falsch zu sein” nicht allein an dir, sondern steht in unmittelbarem Zusammenhang mit deiner Rolle und dem Unternehmen. Die Energie, die ich bei consumerra wahrnehme, ist deiner Energie, wenn du von damals erzählst, sehr ähnlich. Das ist der Grund, weshalb ich heute Vormittag die intuitive Organisationsgestaltung angebracht habe. Ursprünglich war das gar nicht der Plan, ich hatte eigentlich nach den ersten Gesprächen mit dir und Olivia den problemorientierten Ansatz als für euch passend empfunden. Aber als du von damals berichtet hast, wurde mir klar, dass es da ein Potenzial gibt, dass es sich sowohl bei dir, aber auch bei consumerra lohnen würde, weiter zu erforschen. Bitte versteh’ mich nicht falsch, ich möchte hier nicht irgendetwas vermarkten. Schlussendlich gilt, was ich heute morgen gesagt habe. Es braucht ein buy-in von euch allen zu dem Ansatz. Für mich zeigt aber allein schon unser Gespräch hier, was alles möglich ist und ich würde dich und euch auf dieser Reise sehr gerne unterstützen.”
Wieder schweigt Anna und lässt langsam das von Thomas Gesagt einsickern.
“Du meinst also tatsächlich, dass consumerra vielleicht auch am falschen Platz ist?”
“Wenn du das so ausdrücken magst - für mich ist das eher unausgeschöpftes Potenzial. Und das Spannungsfeld zwischen eurer Vision und eurem Purpose hat es auf der Landkarte ja ganz deutlich gezeigt. Entweder ist dieser Purpose nur eine Worthülse, die die Agentur dann sehr geschickt formuliert hat. Oder er spricht für das, was ich hier bei consumerra spüre. Ein Anliegen, das weit über das hinaus geht, auf was ihr gerade euer Handeln ausrichtet. Ich glaube evolutionär gesehen hat consumerra einen anderen Auftrag, als das Amazon für nachhaltige Produkte zu werden. Und natürlich hast du nicht ganz unrecht, wenn du von Veränderungen von Startups im Laufe der Zeit berichtest. Vor allem das Thema Investor und der Druck, der aus den Zahlen entsteht, aus dem zu erfüllenden Business Case und dem unwiderlegbaren Bedarf nach neuem Kapital. Das ändert in vielen Startups alles. Investoren sind eine unglaubliche Einflussgröße, die oft unterschätzt wird. Insbesondere, wenn das Anliegen des Unternehmens gar nicht unbedingt den monetären Erfolg an erste Stelle stellt, sondern seine gesellschaftliche oder planetare Verantwortung. Weil natürlich möchte der Investor Geld verdienen, das ist sein Job. Und damit steht sein Anliegen häufig in Konkurrenz mit dem der Gründer:innen, die eher die Welt zu einem besseren Ort machen wollen.”
“Aber heißt das, du würdest die Finger von Investoren lassen? Wie soll das denn gehen? So läuft nun mal das Business in unserem Bereich. Ich gründe, ich pitche, ich wachse. Außer ich habe das Glück, Elon Musk zu heißen und komme schon mit Millionen im Gepäck an.” Annas Stimme wird mit jedem Wort vehementer.
“Ich möchte hier auf keinen Fall dein Vorgehen kritisieren, Anna,” beruhigt Thomas sie. “Ganz im Gegenteil, ich finde es beeindruckend. Und ich weiß um die Schwierigkeit am Markt als Start-up überhaupt Fuß zu fassen. Ich möchte nur dem Spannungsfeld gerecht werden, das sich offensichtlich und zurecht so sehr umtreibt. Und das maßgeblichen Einfluss auf consumerra hat. Du hast im Verlaufe des Workshops mehrmals gesagt, dass du Lösungen brauchst, die du dem Investor präsentieren kannst. Und, dass du auf keinen Fall mit Maßnahmen für jeden Einzelnen da auftauchen kannst. Gleichzeitig habe ich gehört, dass die agile Transformation vor allem deshalb angestoßen wurde, um den Anforderungen der Developer gerecht zu werden. Also den einzelnen Menschen hier drin, zumindest einem Teil davon. Das bedeutet, dass das, was der Investor sehen will und das, was das Unternehmen braucht, vielleicht nicht unbedingt das gleiche ist.”
Anna schweigt wieder. So klar hat ihr noch niemand den Spiegel vorgehalten. Aber es trifft einen wunden und vor allem richtigen Punkt. Denn trotz der Dankbarkeit gegenüber dem Investor fragt sie sich immer wieder, ob das damals die richtige Entscheidung war.
“Das fühlt sich an wie eine Sackgasse Thomas. Ich brauche das Geld, wir brauchen das Geld. Ohne Geld kein consumerra. Aber je länger dieses Geld hier drin arbeitet, desto schiefer fühlt sich das Unternehmen an. Es ist aber unmöglich mich dem Geld abzuwenden, gleichzeitig ist es unmöglich mich dem zu verschließen, was das Unternehmen braucht. Und eben dieses Gefühl, dass es irgendwie falsch läuft. Vielleicht brauchen wir wirklich mal was ganz anderes. Raus aus den ganzen Strategien und Business Cases und rein in eine Welt, die wir zwar nicht kennen, die sich aber irgendwie richtig anfühlt. Mein Kopf schreit gerade “bist du wahnsinnig Anna!”, aber mein Bauch sagt was anderes, Thomas. Ich merke, dass ich dir vertraue. Und das fällt mir die letzten Jahre zunehmend schwerer, deswegen ist das eine große Aussage für mich. Ich vertraue dir, dass dieser Weg, den du da mit uns gehen willst, nicht dazu dient, dir möglichst viel Geld in die Kasse zu spülen, sondern uns wirklich zu helfen.” Erschrocken über die eigene Direktheit hält Anna inne. "Ich hoffe, ich bin dir da jetzt nicht zu nahe getreten,” schiebt sie nach. Thomas lacht. “Nein, bist du nicht. Und selbst wenn du mir das Gegenteil unterstellen würdest, würde ich dir das nicht übel nehmen. Denn das ist doch das, was uns als Gesellschaft gerade am meisten prägt. Das Geld. Aber du hast recht, mein Anliegen ist nicht, möglichst viel Geld zu verdienen. Ich möchte, wie du die Welt verändern, indem ich mich Unternehmen und Menschen mit meinem Wissen, meiner Kompetenz und meinem Bewusstsein zur Verfügung stelle, um so eine andere Wahrnehmung der Welt zu entwickeln. Eine Wahrnehmung, die ganz selbstverständlich das eigene Handeln innerhalb planetarer und sozialer Grenzen ausrichtet.”
Anna starrt Thomas an. Das, was er da sagt, trifft sie mitten ins Herz. Das ist die Energie, von der sie vorhin gesprochen hat. Deswegen hat sie gegründet. Sie konnte es nur noch nie so ausdrücken.
“Thomas, du sprichst mir aus der Seele! Wir machen das. Ich habe keine Ahnung, wie ich das dem Investor verkaufe. Aber ehrlich gesagt ist mir das gerade auch egal. consumerra ist mein Unternehmen und für mich fühlt sich das genau richtig an. Also werden wir diese intuitive Organisationsgestaltung anwenden. Lass mich nur bitte noch mit Olivia und Michael sprechen. Wir brauchen die beiden.” Anna schmunzelt. “Jetzt lass uns aber noch kurz auf die Kalender schauen und die Coachingsessions planen. Ich muss leider zeitnah weiter und brauche vorher noch einen Happen zu essen.”
Thomas nickt lächelnd und steht auf, um seinen Rechner zu holen. Anna starrt gedankenverloren aus dem Fenster. Sie weiß nicht ganz genau, was hier gerade passiert. Aber irgendetwas passiert. Irgendetwas richtiges, das weiß sie ganz genau. Und irgendwo tief in ihr drin macht sich leise dieses Gefühl der Sicherheit breit. Die Sicherheit, dass sie hier gerade eine gute Entscheidung trifft. Für sich und für consumerra.